CHIANO
Die Geschichte eines Hundes mit besonderen Begabungen
Moha (Illustration) und Andrea (Text) Ennagi

Chiano ist ein Hund, der versehentlich von einem Zebra in Afrika geboren wurde.
Niemand hat je herausgefunden, wer sein Vater ist, auch seine Mutter weiß es nicht.
Eines Nachts hatte die Zebramutter einen seltsamen Traum und am nächsten Tag bei Sonnenaufgang kam Chiano auf die Welt. Die Zebramutter beäugte ihr Neugeborenes und wußte wirklich nicht, was sie von der Sache halten sollte. Ihr Junges war zwar gestreift wie ein Zebra, sah aber im Ganzen aus wie ein Hund, der aber auch noch sein Aussehen ständig veränderte. Sie hatte deshalb jeden Morgen von Neuem große Schwiergkeiten, Chiano als ihr Kind anzuerkennen, denn Chiano kann seit seiner Geburt jede beliebige Form annehmen, liebt Verstecke und verfügt über heftige Emotionen und sehr viel Vorstellungskraft.
An einem warmen Frühlingstag, als er noch klein und leicht wie eine Feder war, wurde er von den Störchen mit nach Europa genommen.

Wenn Chiano fröhlich ist, hängt seine Zunge bis zum Boden.

Oft erwartet er sich eine Belohnung, er weiß aber nie, welche.

Er spürt immer, welche Aufgabe er als nächstes zu bewältigen hat, er ahnt aber noch nicht, auf welche Art und Weise, denn er hat noch nicht genug Erfahrungen gesammelt.

Chiano ist ein freier Hund und läßt sich nicht einfangen. Jeder Versuch, ihn zu schnappen ist zwecklos, denn er hat die Fähigkeit, jede beliebige Form anzunehmen (und er kann auch zurückschnappen). Er vermag seine Proportionen zu verändern, je nach dem, welchen Körperteil er gerade am meisten benötigt.

 

Chiano setzt in seinem Leben Maßstäbe.
Nicht für andere, nur für sich selbst.
Doch er meldet sich, wenn irgend etwas gegen seine Grundprinzipien verstößt.
Dabei kann er sehr laut werden, und zwar so lange, bis man ihn beachtet.
Obwohl er weiß, dass er dann trotzdem nicht immer verstanden wird.
Wenn er zum Beispiel an einer Baustelle bemerkt, das der Architekt den Bau eines Stockwerk falsch geplant hat, beginnt er wie verrückt vor den Bauarbeitern auf -und abzulaufen und durchdringend wie ein Wolf heulen. Dann gräbt er besessen an der fehlerhaften Stelle, so, als würde er dort einen Knochen suchen.
Obwohl er nie zur Schule gegangen ist, kann er geometrische Formen berechnen, mit seinem Schweif Löcher bis zum Erdmittelpunkt bohren und auf einem Draht 1000 Meter über der Erdoberfläche balancieren.
Es wurde ihm schon angeboten, in einem Zirkus zu arbeiten, aber Chiano hat dieses Angebot ohne Angabe von Gründen abgelehnt.

Chiano sucht manchmal die Einsamkeit.
Dann macht er einen Bogen um die Stadt.
Dazu geht er irgendwo hin, wo er die Häuser nur mehr ganz klein von Weitem und die Menschen als winzige, auf und abkrabbelnde Ameisen sehen kann.
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo er zwar wieder in die Gemeinschaft zurückkehren will, aber dennoch Angst vor den anonymen Menschenmassen hat.
Doch manchmal packt ihn die Wanderlust und dann streunt er mit Vergnügen durch die Gegend.
Die wenigen Menschen, die er antrifft, zeigen mit dem Finger nach ihm und rufen:
„Schaut, ein entlaufender Hund, holt die Tierrettung!“
Doch Chiano will nicht gerettet werden. Er verwandelt sich unverzüglich in einen Baum oder Strauch und wartet dann, bis die Tierrettung wieder abzieht, weil sie keinen wilden Hund gefunden hat.
Einmal kam sogar ein Jäger des Weges. Er zielte mit seinem Gewehr auf Chiano, doch  dieser erstarrte sofort zu einem grauen, moosbewachsenen Stein.

Chiano entschließt sich weiter zu ziehen. Er wandert über sieben Hügeln und trifft schließlich auf eine Kuh. Sogleich beginnt die Kuh ein Gespräch mit ihm und beschwert sich über den Bauern, dem sie davon gelaufen ist. Eine Milchkanne hat sie für die Reise mitgehen lassen. Jeden Tag wurde sie auf dem Bauernhof von Maschinen so oft gemolken, dass sie das Gefühl bekam, daran sterben zu müssen. Chiano erklärt ihr, dass ihre Milch in die Fabrik gebracht und dort weiter verarbeitet wird Die Kuh möchte sich nie wieder von einem anderen Lebewesen benützen lassen. Aber sie ist bereit, täglich einmal pro Tag ihre Kanne mit Milch zu befüllen und diese mit Chiano zu teilen.

Die Kuh beschließt, Chiano ein Stück des Weges zu begleiten. Tief in der Nacht nähern sich die beiden auf einer zu dieser Tageszeit unbefahrenen Schnellstraße, die sie zu einer fremden Stadt führt. Chiano fühlt sich durch die hell leuchtenden Straßenlampen an der Stadteinfahrt gestört. "Ich kann das Mondlicht und die Sterne nicht richtig betrachten", erklärt er der Kuh, "wir müssen diese Lichter zum Verlöschen bringen!" Die Kuh willigt in das Vorhaben ein und zusammen konstruieren sie eine Verbindung, über die Chiano zu den Glühbirnen gelangen und sie abschrauben kann. Sie arbeiten die ganze Nacht an ihrer Idee und bald sind alle Lampen erloschen. Chiano freut sich über den nun deutlich sichtbaren Morgenstern.

Doch Chiano möchte auch die gesamte Milchstraße erforschen, was nicht möglich ist, da die Lichter der Stadt dieses verhindern. Also machen sich er und die Kuh auf den Weg zum Flußkraftwerk am Stadtrand, um den Strom komplett abzuschalten. Dort lassen sich Chiano und die Kuh über einen der Kanäle in das Gebäude treiben. Sie schleichen sich zur Schaltstelle und stoppen die Turbinen. Sofort fällt der Strom in der gesamten Stadt aus. Chiano und die Kuh rasten an der Flußbrücke und bewundern die wunderschöne Galaxie.

Kurz nach Mitternacht fühlt sich Holga (so nennt Chiano seine Freundin die Kuh)etwas müde. Sie beabsichtigt unter die Brücke ein kleines Schläfchen halten, Chiano aber ist dagegen. Er spürt, dass sich da etwas sehr Bedenkliches zusammenzubrauen beginnt.  Da er über erhöhte Sensibilität und dadurch über geradezu hellseherische Fähigkeiten verfügt, hat er längst geahnt, dass auf Grund des totalen Stromausfalls nun die ganze Stadt hinter ihm und Holga her ist. Plötzlich fällt Chiano ein, wie er das Problem lösen könnte: Er verformt seinen Körper zu einem Auto und befiehlt Holga  einzusteigen.

Holga gießt ein wenig aus ihrer Milchkanne in den Tank und schon rast das Chiano-Auto los.  Er fährt auf der Autobahn in Richtung Nordstern über die Landesgrenze. Die wenigen Autofahrer, denen sie auf der Straße begegnen, wundern sich ein wenig, weil sie ein solches Modell noch nie gesehen haben.
Manche denken, dass es sich um eine Werbung für eine Milchfabrik handelt, andere machen Pause bei einer Raststation, weil sie glauben, dass sie das nur geträumt haben.
An der Grenze rät Chiano Holge, sich festzuschnallen, dann spannt er Drachenflügel aus und fliegt über die Grenze. Die Polizisten, die alle Autofahrer kontrollieren, bemerken gar nicht, dass eine fliegende Kuh über sie hinwegzieht.

Sie fahren sieben Tage und sieben Nächte und machen erst in einem Land halt, in dem keine Plakate mehr von ihnen hängen. Denn Chiano und und die Kuh sind von Filmkameras gefilmt worden, als sie in das Elektrizitätswerk eingestiegen und für die ganze Stadt den Strom ausgeschaltet haben.

Chiano hat sich glücklicherweise während dieses Vorgangs in ein fremdartiges Insekt verwandelt und als dieses war er nun auf den Plakaten abgebildet.
Doch Holga ist von ihrem Bauern über die Filmaufnahmen, die nun überall im Fernsehen gezeigt werden, identifiziert worden. Er will seine Kuh sofort zurückhaben und auch seine Milchkanne, die er ebenfall auf dem Plakat erkannt hat.
Da auf der Milchkanne der Name es Bauern steht, formt Chiano mit seinem Schweif einen Pinsel und übermalt die Schrift. Zusätzlich fügt er Holga noch ein paar Farbflecken auf ihrem Fell hinzu, damit sie nicht mehr so leicht zu erkennen ist.

 

Auf ihrer Wanderung kommen sie auch an einem neunjährigen Mädchen mit blonden Zöpfen vorbei, das gerade nicht zur Schule geht, weil es für den Klimaschutz demonstriert. Holger und Chiano halten das für eine gute Idee und schließen sich dem Mädchen an.

Es kommt der Tag, wo sie alle drei eine Rede vorbereiten sollen, weil sie vor dem UN-Klimagipfel sprechen werden. Ein Gebärdensprach-Dolmetscher wird ihre Ansprache übersetzen und dabei berücksichtigen, dass sowohl Taubstumme als auch Menschen,    die keine Tiersprache verstehen, den Reden folgen können. 
Als erstes steht Holga vor dem Publikum und spricht lange über ihr Leben in einer riesigen Kuhfabrik, wo sie täglich so lange gemolken wurde, bis Blut aus dem Euter kam. Sie fragt die Zuhörer, warum Menschenmütter ihre Kinder nicht stillen wollen, sondern sie lieber mit Pulver aus Kuhmilch füttern. Sie bittet sie auch, nicht jeden Tag so viel Fleisch zu essen, damit nicht so viele Tiere in engen Käfigen gehalten und danach geschlachtet werden müssen. Als sie mit ihrer    Rede fertig ist, rinnen manchen Anwesenden die Tränen über das Gesicht.

Dann hält das Mädchen mit den blonden Zöpfen ihre Rede. Sie ist sehr, sehr wütend über die Menschen, die unachtsam mit der Erde umgehen und damit die Zukunft der Kinder kaputtmachen. Hunderte Journalisten berichten, fotografieren und schicken die verzweifelte Anklage des Mädchens um die ganze Welt.
Danach wird Chiano gebeten, eine Ansprache zu halten. Chiano verbeugt sich und nimmt eine noble, feierliche Gestalt an. Er blickt ernst in die Runde und erklärt dann sein Anliegen: „Ich kann in der Nacht die die Sterne nicht mehr sehen, wenn soviel Strom für elektrisches Licht verschwendet wird“, ruft er, „deswegen habe ich das Flußkraftwerk abgeschalten! Es war einzig und allein meine Idee, Holga hat mir nur geholfen, weil wir befreundet sind!“
Er erzählt von der Schönheit der Milchstraße, von den verschiedenen Blautönen des Nachthimmels und vom sanften Weiß des Mondes. „In Wirklichkeit ist alles schön“, sagt er zum Schluß, „oder was denkt Ihr?“
Keiner der Menschen wagt es, ihm zu widersprechen, nachdenklich gehen alle nach der Veranstaltung nach Hause.
Es wird dunkel zu werden und ein kalter Wind beginnt zu blasen. Er treibt riesige, schwarze Wolken heran und schon bald fällt Regen.

Das Mädchen mit den blonden Zöpfen hat keinen Schirm mit dabei und kann seine Weste nicht finden.  Chiano verwandelt sich sofort in ein wunderschönes, wasserdichtes Zirkuszelt. Holga serviert darin ein heiße Kanne Milch und legt sich wie ein warmes Sofa auf den Zeltboden, damit das Mädchen bequem schlafen kann.
Morgen, wenn die Sonne aufgeht, werden sich alle drei zusammen in ein neues Abenteuer begeben.

Moha Ennagi


Email:hightpress@gmail.com

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